Der Legende nach soll der russische Feldmarschall Potemkin der Zarin Katharina der Grossen durch bemalte Kulissen moderner, schöner Dörfer vorgegaukelt haben, dass die von ihr angestrebte Verbesserung der Verhältnisse der Landbevölkerung auf gutem Wege sei. Am europäischen Aktienmarkt gibt es solche potemkin‘schen Dörfer auch, mit einem Unterschied: Die, die man damit täuschen kann, stellen sie sich selber auf.
Ich weiss, dass so etwas nun wirklich niemanden motiviert, aber ich rate jedem, der sich unerfahren und mit grossen Erwartungen zum ersten Mal dem Aktienmarkt zuwendet: Fang nicht damit an, schon mal hochzurechnen, wie reich du in ein paar Jahren damit sein wirst. Geh besser erst einmal davon aus, dass das Geld weniger werden kann und kümmere dich darum, genau das zu vermeiden.
Würden alle Neuanleger nicht mit der Aussicht auf viel Geld ohne Arbeit gelockt, sondern erst einmal vor möglichen Risiken gewarnt, würde es mancher womöglich bleiben lassen. Und andere würden auf die Idee kommen, dass es womöglich gar nicht so abgrundtief dumm wäre, sich erst zu informieren, das nötige Basiswissen zu erlernen und dann mit echtem Geld am Aktienmarkt anzutreten, statt einfach mal zu machen … weil es doch allgemein bekannt ist, dass Aktien langfristig sowieso immer steigen.
Euro Stoxx 50: Neue Rekorde über alten Hochs … sehr alten Hochs.
Was auch zutrifft, keine Frage. Was man aber gerne übersieht ist, dass es durchaus einen nicht so ganz kleinen Unterschied bedeutet, ob man da gerade an einem mittel- oder langfristigen Hoch überbewertete Zocker-Aktien kauft oder nach einer Baisse billig Blue Chips einsammelt. Man könnte daran sogar an der Börse aktuell erinnert werden … wenn man denn hinsehen wollte. Denn ist es nicht verwunderlich, dass es zum Ende der Woche darum ging, das „alte Hoch“ des Euro Stoxx 50 zu überwinden? Und nein, da geht es nicht um das Hoch vom Dezember letzten Jahres oder um Hochs der letzten Tage. Es ging um das Verlaufshoch bei 5.495,18 Punkten vom 6. März 2000 (das Schlusskurs-Hoch lag bei 5.965, siehe der folgende Chart)!
Wie kann das sein? Ein 25 Jahre altes Hoch, bislang nicht wieder erreicht? Bei Aktien, die doch angeblich irgendwie immer steigen? Nun, das Problem liegt schon auch teilweise in der Gestaltung von Indizes.
Da man hier die jeweils 50 grössten Eurozone-Unternehmen nach Marktkapitalisierung im Index hat, fallen immer diejenigen raus, die so stark gefallen sind, dass sie eben nicht mehr zu den Top 50 gehören. Bis zu deren Rauswurf aber drücken sie den Index durch ihren Kursabstieg. Dafür werden dann Aktien aufgenommen, die stark gestiegen sind und deswegen eine ausreichend hohe Marktkapitalisierung (i.e. die Zahl der im Streubesitz befindlichen Aktien x der aktuelle Kurs) erreicht haben, um zu diesen Top 50 zu gehören. Dieses Prinzip gilt übrigens für die meisten Indizes, so auch für DAX, MDAX, SDAX und TecDAX.
Erst muss also etwas fallen, um herausgenommen zu werden und etwas steigen, um hereinzukommen. Solche Neuzugänge müssten dann aber noch weiter steigen, um den Index höher zu ziehen. Aber das ist, gerade weil viele in Erwartung eines Aufstiegs vorher kaufen, gar nicht so selten nicht der Fall. Das ist der sogenannte „Aufstiegs-Fluch“, über den ich im täglichen Börsenblick von LYNX ja schon öfter geschrieben habe.
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Und so kann es eben sehr wohl sein, dass ein Index wie der Euro Stoxx 50 25 Jahre braucht, um ein altes Hoch, entstanden damals im Zuge der Internetblase durch eine völlig irre Übertreibungsphase, wieder zu erreichen. Und wer meint, dass man das ja mit der geschickten Auswahl von Einzelwerten für das Depot vermeiden kann, hat Recht …
… wenn man das Wörtchen „geschickt“ auch wirklich beherzigt. Denn dafür braucht es Wissen, Disziplin, Aufmerksamkeit und Zeit. Was indes von immer mehr Menschen, die am Aktienmarkt agieren wollen, als unnötig abgetan wird, denn es läuft ja auch so, scheinbar. Dachte man übrigens vor diesem 2000er-Hoch auch. Ich war schon damals Börsen-Journalist, so etwas wie damals vergisst man nicht. Vor allem nicht, wenn die aktuelle Situation diese Erinnerung so massiv wiederbelebt. Ein potemkin’sches Dorf, das man sich selbst vor die Nase baut. Damals wie heute.
Hausse à la Potemkin: Der Euro Stoxx 50, der DAX und der „andere DAX“
Ja, aber der DAX? Der läuft doch viel, viel besser, da braucht den Euro Stoxx 50 doch eh keiner. Wirklich? Nein, nicht wirklich. Denn dieser DAX, den die meisten als alleinigen DAX kennen, ist selbst so ein potemkin’sches Dorf, eine schöne Fassade, hinter der es aber weniger schön aussieht. Weil? Weil er ein sogenannter „Performanceindex“ ist. Und bei dem werden ausgeschüttete Dividenden der im DAX gelisteten Unternehmen gerechnet, als wären es Kursgewinne. Und auch noch sofort reinvestiert, so dass der Zinseszinseffekt die Performance noch zusätzlich künstlich aufbläht. Der Euro Stoxx 50 aber wird als Kursindex gezeigt, bei dem dieses potemkin’sche Dorf eben fehlt, deswegen wirkt es, als liefe er so schlecht im Vergleich zum DAX.
Da es beide Indizes auch in der jeweils anderen Variante gibt, also den DAX als (aber in den Medien ignorierten, weil eben viel weniger „attraktiven“) Kursindex und den Euro Stoxx 50 als Performanceindex, können wir uns hier mal ansehen, wie extrem der Unterschied zwischen diesen beiden Berechnungsweisen ist. Übrigens:
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Ich wüsste auf Anhieb keinen Index, der ausserhalb der deutschen Indexlandschaft regulär als die Performance schönender Performanceindex dargestellt würde, auch die US-Indizes nicht. Und schaut man sich im vorstehenden Chart mal an, was der DAX seit Ende 1999 ohne diese Stütze der Dividenden-Einberechnung zuwege gebracht hat und wie lange es dauerte, bis das 2000er-Hoch wieder erreicht wurde (bis 2015), ist es vielleicht gar nicht so verkehrt, sich nicht nur um zukünftige, vermeintlich sichere Gewinne zu kümmern, sondern sich auch eine Strategie zurechtzulegen, was zu tun ist, falls es doch anders kommt. Und zwar nicht erst, wenn es soweit ist.
Aber jetzt ist ja an der Börse aktuell erst einmal Super-Hause angesagt, also: Geniessen und nicht zurückschauen, denn wie sagt man doch: Aufwärts immer, abwärts nimmer … oder?
Der schöne Schein suggeriert: Je höher es geht, desto geringer das Risiko
Was steigt, steigt weiter … was lange steigt, wird am Ende gut: Je länger eine Hausse „funktioniert“, desto mehr reduziert sich das Denken vieler Marktteilnehmer auf zwei Dinge. Erstens darauf, dass es irgendwie von alleine läuft, das Depot also auch dann weiter an Wert zulegt, wenn man einfach gar nichts tut. Zweitens auf die scheinbare Gewissheit, dass alle Risiken, die den Markt bislang nicht bremsen konnten, ihn, vermeintlich logischerweise, auch weiterhin nicht bremsen werden.
Man gewöhnt sich nun einmal schnell daran, dass etwas funktioniert und stellt dann die entscheidende Frage nicht mehr: Warum funktioniert es? Sollte man aber.
Denn diejenigen, die sich diese Frage sehr wohl stellen und ernüchternde Antworten vorfinden, sind eine unsichtbare, aber dauerhaft vorhandene Gefahr für schläfrige Dauer-Bullen mit Verlust des Sinns für Gefahren. Für Dauer-Bären in einer scheinbar endlosen Baisse wie zuletzt 2000 bis 2003 übrigens vice versa. Nur sind die jetzt natürlich kein aktuelles Thema.
Was ich persönlich als eines der grössten Risiken sehe ist, dass sich zu viele unerfahrene Anleger nicht damit beschäftigen, was die Börsenhistorie an Beispielen und Lehren zu bieten hätte. Dann würden sie erkennen: Dieses Gefühl, dass eine Zeit lang ignorierte Risiken dadurch automatisch ungefährlich werden, hatten viele Anleger vor jedem Abwärtsschwenk nach jahrelanger Hausse auch. Immer. Egal, ob wir von der Tulpenkrise des 17. Jahrhunderts, dem Crash 1929 nebst folgender, jahrelanger Baisse oder dem Corona-Crash 2020 reden: immer.
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Und nein, mit dem Strom zu schwimmen ist kein garantierter Schutz vor bösen Überraschungen. Ich höre immer wieder den Spruch, dass man deswegen getrost der Masse folgen könne, weil „die anderen ja wohl wissen, was sie tun“. Wissen sie aber oft nicht. Vor allem dann, wenn eben diese anderen sich genauso auf angeblich vorhandene Experten in der Herde stützen, ohne zu ahnen, dass zu viele genau dasselbe denken.
Auch die Sicherheit der Masse ist so ein schöner Schein, ein potemkin’sches Dorf, das sich viele Anleger selbst vor die Nase stellen.
Und dann wäre da ja noch ein weiterer Aspekt, der oft übersehen wird: die zunehmende Bedeutung computergesteuerter Handelsprogramme.
Handelsprogramme – ein Tool wie Goethes Zauberbesen
Viele glauben nicht nur, dass die Aktienmärkte sich entlang der Nachrichtenlage bewegen … was durch Medien auch noch gefördert wird, weil man da fast immer versucht, Anlegerverhalten und die das Handeln beeinflussenden Emotionen zu ignorieren und ein Plus oder Minus nötigenfalls mit der Brechstange mit aktuellen Nachrichten verknüpfen. Sie glauben auch, dass da ja irgendwo erfahrene und superclevere Entscheider bei den grossen Adressen sitzen müssen, die die Trends lenken. Was implizieren würde: Die, die das ganz grosse Geld bewegen, die wissen genau, was sie tun, also kann man ihnen bedenkenlos folgen.
Dazu hätte ich zwei Dinge einzuwenden. Erstens gab es diese Entscheider früher ja auch schon. Und sie lagen meistens mit falsch, wenn auf einmal der Stecker aus der Hausse gezogen wurde. Der Chaos-Strudel der internationalen Banken nach dem Platzen der Subprime-Blase macht das sehr deutlich. Und würde jemand einwenden: Naja, aber das kann ja heute nicht mehr passieren, würde ich entgegnen: Und warum nicht? Weil die Banken „gelernt“ haben und jetzt solche Risiken nicht mehr da sind? Wenn ich da an Eurokrise, FlashCrash oder Corona-Crash denke, würde ich da erhebliche Zweifel anmelden. Zumal man eine Entwicklung forciert hat, die die Sache in einem brisanten Mass weg von vernunftbegabten Entscheidungen in Richtung einer Art „Robo-Börse“ verlagert hat.
Was Handelsprogramme sind, was sie tun und wo ihre Risiken liegen, hatte ich zuletzt im Juni 2024 an dieser Stelle dargelegt. Damit Sie als Leser nicht einen Endlos-Text lesen müssen, hier nur eine extrem gekürzte Erläuterung. Der komplette Artikel „Handelsprogramm und ihre Auswirkungen“ ist unter dem folgenden Link zu finden. Wobei Sie da dann am aktuellen Artikel vorbei scrollen und darunter im Bereich „Börse aktuell: Die letzten Nachrichten“ schauen müssten, da finden Sie diesen Beitrag dann bereits aufgeklappt und lesefertig vor:
Also, hier jetzt im Schnelldurchlauf: Computergesteuerte Handelsprogramme sind Systeme, die imstande sind, die früheren, grossen Handelssäle bei grossen Adressen grossenteils oder sogar ganz zu ersetzen. Statt 50 brüllenden und teuren Tradern reicht ein Programm, das genau das an der Börse tut, was die Programmierer ihm vorgegeben haben. Extrem schnell, ohne Pausen, ohne Zweifel. Ohne Fehler?
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Tja, das ist eben so eine Sache. Fast alle dieser Handelsprogramme agieren auf Basis einer Kombination aus chart- und markttechnischen Aspekten. Die Rahmenbedingungen taugen als Vorlage für solche Handelsprogramme nicht, weil sie immer kompliziert zu interpretieren sind, vom Gesamtbild abhängen und viel zu zahlreich sind. Was bedeutet:
Handelsprogramme agieren völlig unabhängig von der Gesamtsituation, die ja (eigentlich) die Vorlage für Auf- oder Abwärtstrends sein sollte. Und weil diese Programme immer grössere Volumina bewegen und von sehr vielen eingesetzt werden, ist das ein entscheidender Grund, warum diese ganzen Risikofaktoren derzeit keinen Niederschlag in den Kursen finden: Diese Programme sehen sie ja nicht!
Den meisten Anlegern ist das, soweit ich das mitbekomme, nicht klar. Und auch nicht, dass diese Systeme eine für Bullen womöglich ein wenig unschöne Eigenschaft haben:
Es handelt sich hier nicht um „Kaufprogramme“. Diese Systeme können sehr wohl auch Short.
Und das würde dann genauso blitzschnell, kompromisslos und „fehlerfrei“ durchgezogen wie die derzeitige Super-Hausse. Und das ist meiner Meinung nach ein Risiko, das sogar grösser ist als die anderen, denn:
Diejenigen, die diese Handelsprogramme einsetzen, haben sie in der Regel nicht programmiert. Sie lassen diese Systeme oft wie eine „Black Box“ die Arbeit machen im Vertrauen darauf, dass sie bessere Ergebnisse erzielen als Menschen und man, wenn es doch nicht so ist, die Schuld auf die „doofen Maschinen“ abwälzen kann. Damit steht man aber ungefähr so gescheit da wie Goethes Zauberlehrling mit seinem Besen, den er glaubt, völlig im Griff zu haben und der ihm dann auf bittere Weise beweist, dass das ganz und gar nicht der Fall ist.
Die Risiken sind da. Aber das sind sie immer, das ist nie das Problem
Gerade das kompromisslose Umsetzen ihrer programmierten Vorgaben könnten die computergesteuerten Handelsprogramme zu einem Element machen, dass eine Hausse beendet, die zuvor Risiken ignorierte, die diese Programme ja auch nie interessierten.
„Könnte“ heisst nicht „Muss“. Aber mal angenommen, wir sehen wieder eine solche Abwärts-Kurslücke wie an diesen Montagen Ende Januar (DeepSeek) und Anfang Februar (Zölle) und sie fiele diesmal grösser aus. So gross, dass bestimmte Linien, die bei gängigen Handelsprogrammen bei Erreichen von oben Käufe zum Erhalt des aktuell verfolgten Aufwärtstrends auslösen, direkt unterschritten werden. Dann kann es sein, dass viele dieser Systeme sofort umschalten, alles, was Long da ist, glattstellen und auf Short wechseln. Dass muss nicht passieren. Aber man würde sich selbst dieses sprichwörtliche potemkin’sche Dorf vor die Nase stellen, wenn man behaupten würde, dass es nicht passieren kann.
Es war schon immer so, dass Risiken ihr Potenzial, Haussen zu brechen, erst verlieren, wenn sie als gelöst vom Tisch kommen. Und derzeit bauen sich insgesamt mehr Risiken auf als gelöst werden. Nur, wer bereit ist, diesen so praktischen, meist selbstgemachten schönen Schein beiseite zu schieben und bewusst und mit wachem Auge zu handeln, egal, ob lang- oder kurzfristig, reagiert schnell und richtig, wenn, was so viele für unmöglich halten, auf einmal doch möglich ist.
Bis dahin gilt: Irgendwann ist jede Hausse zu Ende, aber jeden Tag, der bis dahin vergeht, geht sie eben weiter.
Ich wünsche Ihnen eine erfolgreiche Börsenwoche!
Ihr
Ronald Gehrt
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